Interview mit Caroline Seifert: Technik als Mittel zum Zweck

Caroline Seifert hat als ehemalige Chief Brand & Design Officer die indische Online-Marke Jio, das damals weltweit größte mobile Datennetz, mit aufgebaut.

Portrait Caroline Seifert
© Caroline Seifert

Caroline Seifert erklärt im Interview, warum bei ihr immer die Problemlösung im Vordergrund steht. Das Interview wurde im Mai 2019 geführt.

Sehen Sie die Entwicklung unserer Gesellschaft eher in Richtung Utopie oder Dystopie?

Ich glaube nicht an Absolutheit. Beides – Utopie und Dystopie - findet seit tausenden Jahren seine Berechtigung. Zukunft hängt von der Haltung und dem Kontext ab. Das Schöne ist: Wir können alle darauf Einfluss nehmen.

Das glauben Sie wird die Technik von morgen sein?

Es gibt nicht DIE Technik. Der Fortschritt von morgen liegt in der disruptiven Nutzung vieler Technologien, beispielsweise von Künstlicher Intelligenz und der Robotik. Technik ist für mich ein Mittel zum Zweck. Mein Fokus liegt auf dem Problem, das ich lösen will. Wie schafft man es, 1.400 Milliarden Menschen zu vernetzen, wie in Indien? Wie schafft man es, dass meine 89-jährige Mutter nicht alle vier Wochen wegen des Zuckermessens zum Arzt muss? Wie schafft man es, mittels anderer Materialien die Umwelt zu verbessern? Und vieles mehr… Vor wenigen Jahren haben wir noch kiloweise Mobilfunk durch die Gegend getragen. Heute ist das Handy nur noch ein paar Gramm schwer, und ich habe meine ganze Welt bei mir und mehr. Morgen brauche ich vielleicht noch nicht mal mehr das, sondern habe meine Anrufe automatisch im Ohr. Problemlösungen gehören zu den Dingen, die sich nie ändern und letztlich Treiber sind für technische Entwicklung und davon gibt es viele - vor und in 1000 Jahren. Ich habe immer ein Zuhause, arbeite, bin unterwegs und kümmere mich um Themen wie Gesundheit und Bildung oder Grundbedürfnisse. Die Themen ändern sich nicht, mittels Technik mache ich sie besser, anders oder löse sie.

Das, was sich heute schon durch die Disruption vieler Technologien am Wesentlichsten ändert, ist die Personalisierung und die kontextuelle Veränderung. Im Grunde erlebe ich alles maßgeschneidert je nach Situation und Emotion, ambient, wie heute schon jeder seine persönlichen Apps auf dem Telefon hat, sagt mir morgen die Kaffeemaschine im Supermarkt, dass der Kaffee aus ist. Nicht die Technik steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch.

Haben Sie Sorgen vor zu viel Technik in unserer Gesellschaft?

Nein. Das wäre im Grunde schon ob all der technologischen Neuerungen, die wir gerne nutzen, absurd, vom Musik-Download bis zur Videotelefonie mit der Familie - oder den Cochlea Implantaten meiner Mutter, die es ihr ermöglicht haben, wieder zu hören. Zum anderen habe ich mich irgendwann zu einer „Can do“-Attitüde-entschieden. Jede Entwicklung hat zwei Seiten. Erfindungen wie das Klonen lösen bei vielen Menschen Bedenken aus, andererseits ermöglicht die Technik es manchen Menschen, Funktionen wieder zu erlangen, die sie verloren hatten, wie beispielsweise von Gliedmaßen. Das ist doch großartig. Alles hat gute und schlechte Seiten, je nachdem wie man die Dinge nutzt und mit welcher Ambition.

Brauchen Sie auch mal eine Auszeit von der Technik?

Ich denke es geht weniger um die Auszeit von Technik, sondern vielmehr um bewusstes Innehalten und Fokussierung in einem Überangebot an Möglichkeiten und Chancen. Ja, das tue ich sehr bewusst. Ich genieße es, ohne Handy in der Natur zu sein und meine Freunde nicht auf Facebook & Co zu treffen, sondern beim Kochen.

Welchen Einfluss hat Technologie ihrer Meinung nach auf Demokratie?

Technologie hat ganz sicher Einfluss auf Demokratie. Auch das hat eben jene zwei Seiten. Zunächst einmal ist es sehr schön, dass alle Menschen an Dingen teilhaben können und eine Stimme haben durch Zugänge und Vernetzungen, die Technologie schafft. In Indien wurden 700 Millionen Menschen mit schnellem Internet versorgt und damit mit dem Zugang zu Wissen, die vorher keinerlei Anschluss hatten. Das war ein sehr positives Erlebnis und hat Indien an Stelle 1 der mobilen Datennutzung vor den USA und China gebracht. Oder die Mobilisierung einer „Friday for Future“-Bewegung weltweit. Jeder kann viel leichter teilnehmen. Es gibt aber eben auch kritische Seiten: Wenn Technologie missbraucht wird, beispielsweise zur populistischen Beeinflussung von Menschen wie wir sie gerade sehen, dann wird es schwer. Solchen Problemen muss man sich stellen und sie viel aktiver angehen.

Wie ist ihre Einstellung zu sozialen Medien?

Großartige Idee der Demokratisierung im Grunde. Jeder kann Popstar werden, sich politisch engagieren, wie wir gesehen haben, sich mit Menschen fachlich und persönlich auf der Welt austauschen, Investoren und Jobs finden, einfach kommunizieren und so vieles mehr.

Und auch hier die zweite Seite: Wenn Millionen Menschen beeinflussbar sind durch einfache Mechanismen, dann birgt das viel Potenzial für Populismus und das Vorgaukeln einer Wahrheit, die es gar nicht gibt. Meine Einstellung zu sozialen Medien ist auch dann kritisch, wenn Menschen sozial gezwungen sind auf einer bestimmten Plattform teilzunehmen. Das ist nicht nur der jugendliche Gruppendruck, selbst im Arbeitsprozess ist man out wenn man kein WhatsApp nutzt. Wenn jemand erst dann „cool“ ist, wenn er 5.000 „Freunde“ hat, ist das schwierig. Hinzu kommen soziale Phänomene wie ein Vereinsamungsprozess, der in vielen Ländern fortschreitet, wenn man erkennt, dass der, der „liked“, eben nicht der Freund ist. Persönlich möchte ich mir die Zeit dazu einfach oft nicht nehmen. Wir leben in einer Zeit, die im Grunde alles möglich macht, und deshalb ist es wichtig, sich klar darüber zu sein, was man will. Es gilt wie immer: Die Haltung muss stimmen.