Interview zum Welttag der psychischen Gesundheit: „Betroffene in Therapie miteinbeziehen und ihre Autonomie stärken“

Heute ist Welttag der psychischen Gesundheit. Nicht erst seit der Corona-Pandemie verdient das Thema Aufmerksamkeit: Stress, Depressionen und weitere sind ernste Erkrankungen und stellen eine Herausforderung für unsere Gesellschaft dar. Wir sprachen mit dem Koordinator des Projekts Cello Prof. Dr. Martin Walter von der Uniklinik Jena darüber, wie interaktive Technologien hier helfen können.

cello.jpg
© Universitätsklinikum Jena

Stress ist heute europaweit das zweithäufigste arbeitsbedingte Gesundheitsproblem. Welche Folgen hat Stress für unsere psychische Gesundheit und wie machen sie sich bemerkbar?
Stress tritt auf, wenn eine Anpassung an besondere Umweltanforderungen notwendig wird. Diese Fähigkeit und die damit verbundenen Reaktionen unseres Körpers, sind grundsätzlich nichts Schlechtes. Wenn es aber über einen längeren Zeitraum immer wieder oder anhaltend zu einer Belastung kommt, dann verselbständigen sich die körperlichen Vorgänge und fangen an, schädlich zu werden. Auf Dauer werden unser Herz-Kreislauf System, unser Hormon-Haushalt und auch das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen und es kommt zu gedrückter Stimmung, Schlafstörung oder Angstzuständen.

Sie wollen mit künstlicher Intelligenz für ein besseres Stressmanagement sorgen. Wie genau funktioniert das System, das Sie im Projekt Cello entwickeln?
Künstliche Intelligenz (KI) kann genutzt werden, um aus großen Datenmengen Informationen über das Aufkommen von Stress für eine Vorhersage zu nutzen. Sie kann also sagen, wie gestresst eine beliebige Person in einer konkreten Situation ist. Unser System macht sich diesen allgemeinen Ansatz zunutze. Das System kann aber mehr als Stress nur mit großer Wahrscheinlichkeit vorherzusagen: Es nutzt die individuellen Informationen über ein mögliches Stresserleben, um dann über die App gezielt mit der Person in Kontakt zu treten. So schaffen wir nicht nur eine bessere, weil individuelle, Vorhersage, sondern wir können auch konkrete Stresssituationen analysieren und Betroffene beim Erlernen entsprechender Gegenmaßnahmen unterstützen.

Sie identifizieren Stressfaktoren mit Sensoren. Was genau wird dabei gemessen?
Die typischen Veränderungen bei Stress betreffen zum Beispiel die Art des Herzschlages. Wird dieser schneller und von Schlag zu Schlag besonders gleichmäßig, dann kann Stress aufgetreten sein. Durch übliche Fitness- oder Gesundheitsuhren können diese Veränderungen gemessen und mit der App verwendet werden. Wir versuchen hier eine Kompatibilität mit möglichst vielen Uhren zu ermöglichen. Nutzende können dann einfach die App runterladen und mit ihrer vorhandenen Uhr koppeln. So können sie an besonderen Angeboten der App zur Analyse und Verhinderung von Stress teilnehmen. Bei Neuerungen müssen sie sich also nicht immer gleich eine neue Uhr kaufen. Das ist auch nachhaltiger.

Walter_Martin.jpg
Prof. Dr. Martin Walter ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Jena ist Koordinator des Projekts CELLO.©Uniklinikum Jena/Martin Walter

Nun kann das System psychische Erkrankungen nicht von selbst verhindern. Wie wichtig ist die Interaktion von Mensch und Technologie in Ihrem Projekt und was gilt es hier insbesondere zu beachten?
Durch Interaktion kann sich eine KI weitaus besser auf einen konkreten Menschen einstellen. Das ist genauer, als nur allgemein geltende Zusammenhänge zur Vorhersage zu verwenden. Die KI der App gleicht die Informationen, die Stress vorhersagen mit dem ab, was uns der individuelle Nutzer nach über seine konkrete Situation sagen kann. Ist er zum Beispiel erkältet, nimmt er Medikamente oder hat er einfach nur die Einkäufe hochgetragen.

Auf welchem Stand ist das Projekt bisher? Wird die App schon erprobt?
Wir sind in der Erprobung gleich mehrerer Umsetzungsschritte, von der Bestimmung von Stress unter Laborbedingungen bis zur Verwendbarkeit der gewonnenen Parameter in der Praxis. Wir testen aber auch, welche verfügbaren Uhren die App in der Praxis vor besondere Herausforderungen stellen und wie wir möglichst viele Informationen erhalten, ohne Nutzende unnötig zu belästigen.

Inwiefern können Systeme wie Cello konkret unseren Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Zukunft verändern?
Wir sollten diese neuen Möglichkeiten sowohl zur Erhaltung von psychischer Gesundheit nutzen, wie es zum Beispiel die Cello-App vorhat, als auch als Unterstützung bei der Behandlung von psychischen Krankheitssymptomen. Hierbei geht es meiner Meinung nach nicht nur darum, eine bestimmte Erkrankung mit einer App „wegzutherapieren“, sondern auch Einschränkungen im normalen Leben zu verringern. Es gibt aber vielversprechende Ansätze, mit bestimmen Aufgaben einer App auch die Symptome therapeutisch zu verbessern, die für bestimmte psychische Erkrankungen typisch sind. Da die Patientinnen und Patienten hier stark in ihre eigene Therapie und Erhaltung der Gesundheit einbezogen werden, gehe ich davon aus, dass wir so eigene gesundheitsförderliche Fähigkeiten und die Patientenautonomie stärken können.

Was ist Ihre Vision für den Einsatz von interaktiven Technologien im Rahmen psychischer Erkrankungen und was gibt es hierfür nun zu tun?
Gesundheits-Apps sollten am besten bei den Problemen helfen, die am wenigsten durch bestehende Ansätze gelöst werden können. Wir haben viel zu wenig Zeit für die Versorgung einzelner Patientinnen und Patienten im Gesundheitssystem, aber gerade diese Zeit ist sehr wichtig. Deshalb hoffe ich, dass durch ergänzende Maßnahmen Patienten mehr Therapie erhalten als bisher. Durch eine Verbindung dieser neuen Möglichkeiten mit existierenden Verfahren, könnte aber zum Beispiel auch die Wirksamkeit von Psychotherapie verbessert oder akute Verschlechterungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten früher erkannt werden. Bei psychischen Problemen, die wir immer noch schlecht verstehen oder solchen, die neu auftreten, wie zum Beispiel Schlafstörungen oder Stimmungsveränderungen nach einer Covid-19 Erkrankung, könnten Apps aber auch schnell neue Erkenntnisse über mögliche Ursachen und Behandlungsansätze liefern.

WEITERE INFORMATIONEN

Projekt Cello

Das Interview wurde im September 2022 geführt.