Interview mit Johanna Feuchtinger: „Die Pflege für die Digitalisierung stark machen“

Das vom BMBF geförderte Cluster Zukunft der Pflege präsentierte sich im September 2021 auf dem Deutschen Pflegetag – wir blicken mit Dr. Johanna Feuchtinger vom Pflegepraxiszentrum Freiburg zurück und nach vorn. Sie ist Programmbeirätin für den Deutschen Pflegetag.

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Dr. Johanna Feuchtinger.©Universitätsklinikum Freiburg/Britt Schilling

Liebe Frau Dr. Feuchtinger, welchen Arbeitspaketen widmen Sie sich gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kolleginnen im Programmbeirat für den Deutschen Pflegetag?
Der Beirat hat die Aufgabe, den aktuellen Entwicklungen in der Pflege eine Stimme zu geben – und zwar in allen Bereichen. Dazu gehören gleichermaßen Themen der Führung, Innovationen, aber auch Herausforderungen in der Praxis und Erkenntnisse der Pädagogik. Die Planung und inhaltliche Ausgestaltung der begleitenden Ausstellung zum Deutschen Pflegetag ist ein weiterer Berichtspunkt. Eine große Herausforderung ist weiterhin - und das war entsprechend auch ein Themenschwerpunkt - die Personalgewinnung, gerade im Nachwuchsbereich. Eine gute und attraktive Ausbildung ermöglichen und die Pflege für die Digitalisierung stark machen, das liegt mir dabei ganz besonders am Herzen.

Bei Ihrer Arbeit im Cluster Zukunft der Pflege erforschen und entwickeln Sie anwenderorientierte und praxisnahe Lösungen, um mit Technologien Pflegeprozesse zu verbessern und den Alltag von Pflegenden und den Betroffenen zu erleichtern. Welche Rolle spielten Pflegeinnovationen auf dem Deutschen Pflegetag 2021?
Pflegeinnovationen nehmen hinsichtlich ihrer Relevanz immer weiter an Fahrt auf. Der Deutsche Pflegetag bestückte deshalb sowohl das Hauptprogramm als auch das Side-Programm mit dezidierten Informations-und Interaktionsmöglichkeiten zu Themen der Digitalisierung und Technisierung. Die Programmsäulen „Pflege neu denken“ und „Pflege digital“ konnten wir wieder mit zukunftsweisenden Beiträge besetzen.

Sehen Sie hierbei einen technologischen Trend?
Einen Fokus nehmen robotische Systeme mit ihrer möglichen assistierenden Rolle ein. Sie können perspektivisch Pflegefachpersonen und informell Pflegende physisch bei ihrer täglichen Arbeit unterstützen, etwa bei der Positionierung von Patientinnen und Patienten. Neue Technologien im Bereich der virtuellen oder der erweiterten Realität – also VR- und AR-Ansätze – haben ein großes Potenzial im Pflegesektor und werden beispielsweise für animiertes Training für Personal und Pflegebedürftige oder auch der Konsultation aus der Distanz mit Betreuenden aus der Pflege und Ärzteschaft erforscht und entwickelt. Im Cluster testen wir aktuell z. B. auch Bildprojektionen zur Aktivierung, Beruhigung und Orientierungsunterstützung bei Patientinnen und Patienten etwa mit kognitiver Beeinträchtigung oder polylinguale Kommunikations-Apps zum Abbau sprachlicher Barrieren.

Hat sich die Bedeutung interaktiver Technologien im Pflegebereich durch Corona verändert? Sehen Sie einen Schub nach vorne?
Ja, auf jeden Fall. Die Kommunikation zwischen Betroffenen und Angehörigen war wegen der Covid-19-Pandemie über lange Strecken nur digital möglich. Leider wird dies an vielen Stellen aufgrund der steigenden Fallzahlen aktuell weiterhin bestehen bleiben. Dies bedeutet eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Doch ich stelle fest, dass viele Einrichtungen große Sprünge in der Digitalisierung gemacht haben. Denn professionell Pflegende sind lösungsorientiert: Wenn eine Technik hilft, dann nutzen wir sie auch. Vielerorts kann mit digitaler Unterstützung der so wichtige Austausch zwischen den Betroffenen zum Beispiel in Pflegeeinrichtungen mit ihren Angehörigen weiterhin stattfinden.

Wie haben Sie den Deutschen Pflegetag 2021 erlebt? Gab es Überraschungen? Welche Erkenntnisse nehmen Sie mit nach Freiburg für ihre Arbeit im Pflegepraxiszentrum?
Der Deutsche Pflegetag hatte einen festen Platz in den Medien. Das hat mich beeindruckt. Inhaltlich stelle ich dabei auch fest, dass digitale und technische Entwicklungen mehr und mehr Raum in der Kommunikation im Pflegesektor einnehmen. Dialog ist das A und O. Wir müssen wachsam bleiben und gut koordinieren – alle gemeinsam. Nur so kommen Innovationen auch in der Praxis an.

Wer oder was stellt dafür die Weichen?
Ob und wie Innovationen in der Praxis ankommen, hängt von vielerlei Faktoren ab. Wir können sagen, dass Innovationen immer dann in der Praxis ankommen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen für die Nutzenden mit angemessenem Aufwand anzuwenden sein und nachweislich sowie spürbar die Versorgung von Betroffenen und die Pflegenden in ihrem Alltag unterstützen.

Was gibt es aus Ihrer Sicht noch zu tun?
Wir haben gute Erfolge in einzelnen Bereichen, sehen aber auch deutliche Unterschiede: Was in einem Pflegeheim funktioniert, muss nicht unbedingt in einem Krankenhaus funktionieren. Eine VR-Brille, die mit einem Spiel die Orientierung und die soziale Teilhabe für Menschen mit Demenz unterstützt, kann in einem Pflegeheim eine große Hilfe für Betroffene und Pflegende sein – im Krankenhaus aber nicht, etwa aufgrund der akuten Gesundheitssituation der Patientinnen und Patienten und auch anderer Organisationsstrukturen. Hier zeigt sich, dass der Wissenstransfer und eine bedarfsgerechte Entwicklung der Technologie intensiviert werden muss. Wir müssen stärker mit den Herstellern noch zusammenarbeiten, um bei der Entwicklung von Prototypen früh die unterschiedlichen Bedarfe berücksichtigen zu können.

Ihre Vision: Wie soll digital unterstützte Pflege in zehn Jahren aussehen?
Ich habe einen Wunschtraum: Alle nützlichen innovativen Technologien können niederschwellig und einfach über eine für Hersteller und Einrichtungen gültige Schnittstelle in alle digitalen Systemen von Krankenhäusern und Pflegeheimen eingebunden werden. Keine technischen Aufwände. Keine Doppeldokumentationen. Dafür aber eine hohe Steigerung der Versorgungsqualität.

Zum Abschluss: Welche Innovationen und Schlaglichter können Teilnehmende vom Deutschen Pflegetag 2022 erwarten?
Das Programm für den Deutschen Pflegetag 2022 ist noch in der Entwicklung. Sicher kann man sagen, dass es um die Pandemie und deren Auswirkungen auf die Pflege in allen Settings gehen wird, um die Digitalisierung und Technisierung in der Pflege, aber auch um gesellschaftliche Themen wie Rassismus und ethische Dimensionen in der Pflege. Auf jeden Fall können wir wieder spannende Beiträge erwarten.

 

Das Gespräch wurde im Januar 2022 geführt.

Weitere Informationen:

BMBF –Forschungsfeld Interaktive Technologien für Gesundheit und Pflege 

Cluster Zukunft der Pflege

Pflegepraxiszentrum Freiburg

Pflegepraxis - offen für Neues – Interview mit Dr. Johanna Feuchtinger

Videomitschnitte vom Deutschen Pflegetag 2021:

ZDF.de 

Rede von Gesundheitsminister Jens Spahn zur Eröffnung des Deutschen Pflegetags am 13.10.21

Christine Vogler: Rede auf dem Deutschen Pflegetag

heute journal vom 13.10.2021 (ab Minute 16:16)