Corona-Bot, übernehmen Sie: Medizinische Ersteinschätzung durch einen intelligenten Bot

Während der Corona-Pandemie sind viele Arztpraxen bereits dazu übergegangen, neben der Behandlung in den Praxisräumen auch eine telemedizinische Beratung anzubieten. Das Projekt MEDIBILITY erforscht, wie eine solche virtuelle Beratung gestaltet sein muss, damit sie perspektivisch eine Alternative zum Arztbesuch darstellen kann. Dabei entstand die KI-gestützte Corona-Auskunft.

Florian Bontrup, Geschäftsführer der DOCYET GMBH und Projektkoordinator im Projekt MEDIBILITY
Florian Bontrup, Geschäftsführer der DOCYET GMBH und Projektkoordinator im Projekt MEDIBILITY© DOCYET GMBH

Während der aktuellen Corona-Pandemie haben Menschen, die Symptome zeigen, einen erhöhten Bedarf an ärztlicher Beratung. Jedoch gestaltet sich der Arztbesuch im Moment nicht so leicht wie vor der Pandemie. Arztpraxen bitten im Verdachtsfall um einen telefonischen Erstkontakt und auch Patientinnen und Patienten selbst besuchen die Praxen nur ungern, aus Angst, sich im Wartezimmer anzustecken. Medienberichte liefern zwar aktuelle Informationen über das neue Coronavirus, jedoch beantworten diese abstrakten Meldungen nicht die Frage, ob man selbst infiziert sein könnte. Abhilfe schaffen könnte die Telemedizin – also der virtuelle Arztbesuch per Telefon und Webcam. Doch diese funktioniert nicht ohne Ärzte – und die sind im Moment sehr ausgelastet. Was wäre aber, wenn die Ersteinschätzung durch eine digitale Anwendung erfolgen könnte, die erst an einen Menschen übergibt, wenn ein konkreter Coronaverdacht vorliegt? Dieser und weiterer Fragen geht das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt MEDIBILITY aus dem Bereich Mensch-Technik-Interaktion nach. Wir führten ein Interview mit Florian Bontrup, dem Geschäftsführer der Firma DOCYET und Projektkoordinator von MEDIBILTY. Das Interview wurde im Mai 2020 geführt.

Herr Bontrup, wie genau funktioniert die medizinische Ersteinschätzung durch einen Bot?

Das Prinzip ist denkbar einfach: Wenn man sich krank fühlt und wissen möchte was zu tun ist, besucht man unsere Website und unterhält sich mit unserem Chat-Bot, einem System das auf künstlicher Intelligenz (KI) beruht. Am Ende der virtuellen Unterhaltung erhält man eine individuelle Einschätzung zur Art der Erkrankung – auch, aber nicht nur in Bezug auf Corona – sowie eine konkrete Handlungsempfehlung. Das Chatfenster gleicht dabei dem eines Smartphones und auch die Eingabe funktioniert sehr intuitiv, denn das System versteht auch umgangssprachliche Ausdrücke.

Warum ist eine digitale Ersteinschätzung für Menschen in der aktuellen Situation so wichtig?

In der aktuellen Situation ist der Arztbesuch in vielen Fällen nur bedingt möglich. Entweder, weil Ärzte nicht möchten, dass man mit Grippe-Symptomen in die Praxis kommt oder weil Arztpraxen überlastet sind. Eine digitale Ersteinschätzung, die individuelle Symptome und Vorerkrankungen mitberücksichtigt und die jederzeit und anonym verfügbar ist, bietet da einen großen Mehrwert.

Benutzer liest etwas auf einem Handy nach.
Die Corona-Auskunft fragt individuelle Symptome ab und trifft eine digitale Ersteinschätzung.© DOCYET GMBH

Welche Zielsetzung verfolgen Sie mit dem Projekt MEDIBILITY?

Als wir im letzten Jahr mit dem Projekt starteten, wollten wir erforschen, welche Voraussetzungen und welches Setup nötig sind, damit Telemedizin in Zukunft eine echte Alternative zum persönlichen Arztbesuch darstellen kann. Wir wollten herausfinden, wie zum einen das Vertrauen der Patientinnen und Patienten in eine digitale Ersteinschätzung gestärkt werden kann und wie zum anderen unsere Lösung in Kombination mit einer Telekonsultation funktioniert – also wie wir Telemedizinerinnen und Mediziner in einen sinnvollen Prozess einbetten und Sie bei der Arbeit unterstützen können. Das war allerdings vor der aktuellen Corona-Situation.

Inwiefern hat Covid-19 die Arbeit in Ihrem Projekt verändert?

Wir waren zwar überzeugt davon, dass Telemedizin in naher Zukunft eine stärkere Rolle in unserem Gesundheitssystem spielen würde, aber wir haben damals nicht geahnt, wie nah diese Zukunft tatsächlich war. Durch das Aufkommen von Covid-19 ist die Telemedizin zur Realität geworden und als fester Bestandteil in unserer medizinischen Versorgung angekommen, weil aktuell immer mehr Arztpraxen auf virtuelle Behandlungen ausweichen, um Patientinnen und Patienten überhaupt versorgen zu können.

Inwieweit lässt sich Ihre bisherige Projektarbeit in der aktuellen Situation nutzen?

Im Zuge der Corona-Situation haben wir als Unternehmen in wenigen Wochen eine Variante unseres eigentlichen Hauptproduktes “Gesundheitslotse”, die “Corona-Auskunft” entwickelt. Das Tool wird regelmäßig an die aktuellen Entwicklungen und den Richtlinien vom Robert Koch-Institut angepasst und ist als Medizinprodukt zugelassen. Die Corona Auskunft wird jetzt von diversen Krankenkassen und Versorgungseinrichtungen eingesetzt, darunter dem Deutschen Roten Kreuz, den R+V Versicherungen, der Daimler BKK, der HanseMerkur oder den Paracelsus Kliniken – wir sind davon echt überrollt worden.

Hier ist dann auch der Anknüpfungspunkt für unser Projekt MEDIBILITY: Im Projekt haben wir, die Firma DOCYET gemeinsam mit unseren Projektpartnern der Leuphana Universität Lüneburg, im letzten Jahr bereits einen “Handover” entwickelt und vertestet, bei dem wir die von unserem Hauptprodukt “Gesundheitslotse” erfassten Symptome in einem übersichtlichen Interface für die weitere Behandlung an einen Telemediziner übergeben können. Die Technik funktioniert natürlich auch bei der Corona-Auskunft und wir haben einige Partner die jetzt überlegen, ob und wie sie ihre neuen telemedizinischen Angebote mit unserer Technik verknüpfen können.

Wird bei einem Verdacht auf eine Corona Infektion das zuständige Gesundheitsamt verständigt?

Anders als bei anderen Applikationen, die derzeit im Kontext von Covid-19 entwickelt werden, funktioniert die Corona Auskunft vollkommen anonym. Es findet keine Rückverfolgung statt und auch im Falle eines positiven Coronaverdachts sind die Empfehlungen des Systems für die Patienten nicht bindend. Trotzdem geben wir natürlich die dringende Empfehlung sich zu melden oder testen zu lassen und helfen auch dabei, das nächste Gesundheitsamt zu finden und zu kontaktieren.

Wie geht es weiter im Projekt MEDIBILITY?

Wir befinden uns mit MEDIBILITY gerade am Anfang der zweiten Projekthälfte. In der ersten Phase ging es darum, einen ersten Demonstrator für den “Handover” zu entwickeln und diesen zu testen. Nun, in der zweiten Hälfte werden wir zum einen den Handover weiterentwickeln und eine größere Testphase starten, in der vor allem die Übergabe von KI Bot zur Ärztin bzw. zum Arzt optimiert werden soll. Durch den verstärkten Einsatz von Telemedizin können wir dabei wahrscheinlich auf deutlich mehr Tester zurückgreifen, auch wenn die Durchführung durch die Beschränkungen nicht leichter geworden ist.

Wie könnte sich Ihre Anwendung, der „Gesundheitslotse“ in Zukunft weiterentwickeln?

Langfristig wollen wir den Gesundheitslotsen als digitalen Patientenbegleiter etablieren, als festen Ansprechpartner, bei jeder Art von Gesundheitsproblem und nicht nur bei Corona. Das System dient dann als Entscheidungshilfe und arbeitet nahtlos mit Medizinerinnen und Medizinern zusammen, also echte Mensch-Technik-Interaktion. Wir wollen uns außerdem anschauen, ob der Lotse in Zukunft auch weitere Versorgungsangebote miteinander vernetzen kann, ggf. In Zusammenspiel mit der elektronischen Patientenakte.

 

  • Das Projekt MEDIBILITY wird von der DOCYET GmbH als Verbundkoordinator in Zusammenarbeit mit der Leuphana Universität Lüneburg durchgeführt und innerhalb der Bekanntmachung Start MTI vom BMBF gefördert (Ende 07/2021).
  • Das Projekt untersucht, wie in der Patientenkommunikation ein hybrides Angebot aus KI-gestützten Bots und einer telemedizinischen Beratung durch medizinisches Fachpersonal umgesetzt werden kann.
  • Der Fokus liegt dabei auf der Übergabe von Bot zum Mediziner, dem sogenannten Handover-Prozess. Ziel ist es, nach einer KI-gestützten Ersteinschätzung möglichst viele relevante Informationen zusammenzustellen, so dass dieser die Patientenkommunikation bei Bedarf nahtlos per Telemedizin fortführen kann.