Mit Abstand die sicherste Verbindung

Im Projekt U-hoch-3 entwickeln Forschende ein Assistenzsystem, das unter anderem die Auslastung in verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln ermitteln soll. Eine Funktionalität, die in der aktuellen Zeit dabei helfen könnte, Fahrten in überfüllten Wagen zu vermeiden und somit sicherer zu reisen. Prof. Dr. Ludger Schmidt ist Projektkoordinator und erklärt im Interview wie das System funktioniert.

Prof. Dr.-Ing. Ludger Schmidt, Leiter des Fachgebiets Mensch-Maschine-Systemtechnik an der Universität Kassel und Koordinator im Projekt U-hoch-3
Prof. Dr.-Ing. Ludger Schmidt, Leiter des Fachgebiets Mensch-Maschine-Systemtechnik an der Universität Kassel und Koordinator im Projekt U-hoch-3© Universität Kassel

Das Interview wurde im Mai 2020 geführt.

Herr Prof. Schmidt, wofür steht U-hoch-3?

U-hoch-3 steht für „unbeschwert urban unterwegs“. Kurz gesagt geht es uns im Projekt darum, öffentliche Verkehrsmittel attraktiver machen, Nutzungsbarrieren abbauen und so die Lebensqualität im urbanen Raum steigern. Dazu entwickeln wir ein Assistenzsystem, das Nutzer bedarfsgerecht entlang einer Reisekette mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterstützt.

Wie funktioniert das im Projekt U-hoch-3 entwickelte Assistenzsystem?

Das Assistenzsystem verfügt über drei zentrale Funktionen: Zum einen erfasst es den Belegungszustand in den Verkehrsmitteln und stellt diesen in Echtzeit für Fahrgäste und Verkehrsanbieter bereit. Damit weiß man schon vor dem Einsteigen, ob ein Verkehrsmittel besonders voll sein wird und kann bei Bedarf entsprechende Alternativen wählen. Zum anderen entwickeln wir eine Anschlusssicherung, die es Fahrgästen ermöglicht, beim Umsteigen einen Anschlusswunsch zu signalisieren. Dies verbessert die Informationslage für den Verkehrsanbieter, der dann darauf hinwirken kann, dass die Fahrgäste ihren gewünschten Anschluss erhalten, indem z. B. das Anschlussverkehrsmittel auf Umsteiger wartet. Außerdem entwickeln wir derzeit einen robotergestützten Lieferdienst, der den Transport von Einkäufen und Gepäck erleichtern soll.

Wie könnte das System in der aktuellen Corona-Pandemie helfen?

Für die aktuellen Abstandsregelungen während der Corona-Pandemie ist sicherlich die Erfassung des Belegungszustands in öffentlichen Verkehrsmitteln am interessantesten. Diese ist einerseits für Fahrgäste nützlich, um bei Bedarf auf weniger stark ausgelastete Alternativen ausweichen zu können und die Abstandsregeln einzuhalten. Andererseits bekommt aber auch der Verkehrsanbieter durch die Daten eine bessere Planungsgrundlage für den flexiblen Verkehrsmitteleinsatz in der aktuellen Corona-Situation, z. B. für den kurzfristigen Einsatz von Zusatzbussen. Viele Städte und Kommunen sind zwar in den letzten Wochen wieder zum gewohnten Fahrplan zurückgekehrt, jedoch waren Angebot und Nachfrage nur schwer planbar. Mit dem System könnte man noch besser auf den tatsächlichen Bedarf reagieren.

Wie werden die Daten zum Belegungszustand erhoben und wie detailliert sind die Angaben?

Um den Belegungszustand zu ermitteln, werden Sensoren in den Fahrzeugen verbaut, die eine automatische Fahrgastzählung einschließlich Rollstuhl-, Kinderwagen- und Fahrrad-Erfassung erlauben. Zudem werden historische Daten und Prognosemodelle genutzt, um die voraussichtliche Belegung zu berechnen, z. B. von Sitzplätzen und Mehrzweckflächen. Perspektivisch wird der Belegungszustand dann sowohl an der Haltestelle als auch in einer App angezeigt. Eine endgültige Festlegung zum Detailgrad wird von der gewünschten Vorlaufzeit und auch davon abhängen, wie leistungsfähig die Prognosen sind. Je langfristiger, desto ungenauer wird die Angabe sein, da beispielsweise zwischenzeitliche Ein- und Ausstiege stattfinden werden.

Ist das System bereits in Betrieb?

Aktuell befindet sich das System noch in der Entwicklung. Nach umfangreichen Untersuchungen bei uns im Mobilitäts- und Simulationslabor ist aber ein groß angelegter einjähriger Feldtest in Kassel für 2022 geplant. 

Wie ließe sich das System anpassen um noch besser in der aktuellen Situation helfen zu können?

Das System wäre schon jetzt sehr hilfreich, um schnell auf besondere Nachfrageänderungen reagieren zu können, für die keinerlei Erfahrungswerte vorliegen. Ein gutes Beispiel ist der Schulverkehr. Bei einem Ferienende ist Kalkulation des Bedarfs relativ einfach. Von einem Tag auf den anderen nutzen plötzlich alle Schülerinnen und Schüler wieder öffentliche Verkehrsmittel. Aktuell kehren die Schulen jedoch nur sehr langsam zum Normalbetrieb zurück, somit gestaltet sich auch die Bedarfskalkulation schwieriger. Das Vertrauen in einen gut nutzbaren öffentlichen Verkehr ist aber gerade jetzt besonders wichtig, nachdem zwischenzeitlich sogar zur Nutzungsvermeidung aufgerufen wurde. Die Erfahrung zeigt, dass es monatelang dauern kann, bis sich die Nutzungsbereitschaft nach besonderen Situationen wieder normalisiert. Dazu kann das Assistenzsystem sicher einen Beitrag leisten.

Wie ist der aktuelle Stand im Verbundprojekt U-hoch-3?

Derzeit konkretisieren wir die Anforderungen und entwickeln Nutzungsszenarien im Detail. Dazu suchen wir noch potentielle Nutzer eines solchen Assistenzsystems, um in Online-Fokusgruppen und Telefon-Interviews Anforderungen aus Fahrgastsicht abzuleiten. Vorkenntnisse sind nicht notwendig. Eine Anmeldung ist unter https://uni-kassel.de/go/u-hoch-3 oder Tel. 0561 804-7083 möglich. Unter den Teilnehmern werden Einkaufgutscheine im Wert von 100 € verlost.

 

Weitere Informationen:

Webauftritt U-hoch-3

Projektsteckbrief U-hoch-3

Bekanntmachung Individuelle und adaptive Technologien für eine vernetzte Mobilität