Leitlinien müssen Mindeststandards in der Telemedizin abstecken

Klaus Graf, COO und Senior Director bei IQ MEDWORKS GmbH, ist Projektkoordinator von MeSiB. Im Projekt wurde ein System mit innovativer Notfallerkennung im häuslichen Umfeld entwickelt, das mit einem Telemedizin-Zentrum verbunden werden kann. Im Interview erläutert Herr Graf, wie die Corona-Krise den Markt im Bereich Telemedizin verändert.

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© IQ MEDWORKS /Lukas Lehmann

Das Interview wurde im Mai 2020 geführt.

Herr Graf, wie funktioniert das System von MeSiB bei einem Notfall im häuslichen Umfeld?

Wenn intensivpflegebedürftige Menschen zuhause beatmet werden, stellt das Angehörige und Pflegende vor große Herausforderungen. Das System von MeSiB sieht vor, dass die Technologie die Vitaldaten eines heimbeatmeten Patienten überwacht. In kritischen Situationen kann das System so erste Schritte einleiten und Handlungsempfehlungen geben. Bei Bedarf wird die Häuslichkeit mit einem Telemedizin-Zentrum verknüpft. Der erste Kontakt geht dabei an eine Hausnotrufzentrale. Dort wird dann sofort im direkten Dialog geklärt, welcher Art das Problem ist, und ob tatsächlich eine Vital-Bedrohung vorliegt. Bei Gefahr kann mit einem Tastenklick ein Facharzt dazu geholt und/oder der Rettungsdienst alarmiert werden.

Denken Sie, dass solche Telemedizin-Zentren im Zuge der Corona-Pandemie an Bedeutung gewinnen?

Ja das denke ich schon. Digitalisierung im Gesundheitswesen kann das Pandemie-Management erleichtern, weil notwendige Daten unmittelbar verfügbar sind und sehr viel ohne direkte ärztliche Präsenz vom vor Ort befindlichen Fachpersonal erledigt werden kann. Im Moment gibt es allerdings leider eine Art Wildwuchs, was Telemedizin-Systeme angeht. Es kommen plötzlich viele neue Kommunikations-Apps in dem Bereich auf, da kann man den Überblick verlieren. Das halte ich für problematisch.

Welche Gefahr sehen Sie in dieser Entwicklung?

Im Moment wird aufgrund der Krise zwar viel über Datenschutz geredet, dabei aber das Thema Patientensicherheit im Sinne von durchdachten Prozessen vernachlässigt. Wenn sich die Lage jedoch irgendwann wieder beruhigt hat, kann es sein, dass eine Überregulation eintritt. Geht in einem Versorgungsprozess etwas schief, könnte es passieren, dass das Thema Telemedizin wieder per se in Frage gestellt wird.

Sie meinen also es fehlt momentan an Kontrolle?

Meines Erachtens fehlt eine Kontrolle im Sinne der Patientensicherheit. Andererseits werden im Moment viele Innovationen in Dinge hineininterpretiert, wo gar keine sind. Audiovisuelle Kommunikation können wir schon seit 10 Jahren, das ist also keine Innovation. Wenn man momentan die Zeitung liest hat man den Eindruck, dass jeden Tag irgendwo auf der Welt jemand zum ersten Mal Telemedizin betreibt. Da werden Begrifflichkeiten verwechselt und Behauptungen aufgestellt, die nicht zutreffend sind. Diesen, auch als Reaktion auf die Corona-Pandemie, schnell entwickelten Systemen fehlt es unter anderem oft an einer rechtssicheren Dokumentation.

Wie lässt sich dieses Problem ihrer Meinung nach lösen?

Wir brauchen Leitlinien für das Thema Telemedizin, die den Mindeststandard abstecken. Es gibt so eine Leitlinie schon für die präklinische (Tele)Notfallmedizin, so etwas brauchen wir für jedes Gebiet, egal ob häusliche Pflege oder Heimbeatmung. Überall dort, wo Telemedizin eine Rolle spielt, muss sie mit einer praxisorientierten Leitlinie definiert sein. Alles andere kann zu Wildwuchs führen und birgt dann Gefahren.

Glauben Sie, dass das Thema Heimbeatmung im Zuge der Corona-Krise neu bewertet wird?

Da bin ich gespannt. Das Thema sollte eigentlich komplett vom Tisch, aber im Zuge der Corona-Pandemie zeigt sich, dass das kein gangbarer Weg ist. Wenn man Patienten in der Häuslichkeit adäquat behandeln kann, sollte man das auch tun, damit die Intensivkapazitäten in den Krankenhäusern freigehalten werden.

Wie lässt sich sicherstellen, dass das System auch in einem Notfall funktioniert?

Das hat zwei Komponenten. Einmal eine technologische Komponente, die haben wir im Griff. Das andere ist die menschliche und fachliche Komponente. Wenn vor Ort niemand ist, der die Maßnahmen ergreifen kann, dann bringt die beste Technologie nichts. Die Technologie alleine kann den Patienten nicht versorgen.

Was wünschen sie sich also für die Entwicklung in der Zukunft?

Eine gesunde Definition von Fachkräften, die 24/7 bei heimbeatmeten Patienten sind. Und nicht eine Lösung, bei der ab und zu mal eine Fachkraft da ist und ansonsten übernimmt der Angehörige. Angehörige sind, insbesondere in Notfallsituationen, mit solchen Patienten oft komplett überfordert. Ich wünsche mir also eine Definition der Pflege an 24 Stunden mit den notwendigen fachlichen Anforderungen, mit anderen Worten der Fachpflegevorbehalt für Beatmungspatienten in der Häuslichkeit. Nur eine fachlich ausgebildete Intensivpflegekraft darf so einen Patienten betreuen und keine Hilfskraft. Das Vorgehen wird aber nicht effektiv überwacht. Wichtig ist eine fachlich fundierte, nachvollziehbare Kontrolle durch die medizinischen Dienste der Krankenkassen.

Wie geht es für MeSiB weiter?

Das Projekt endet im August, wir sind dabei die Technologie so zu finalisieren, dass sie zulassungsfähig ist. Wenn das Projekt abgeschlossen ist, kommt als nächster Schritt die Vervollständigung der hinterlegten Szenarien und die Zulassung als Medizinprodukt, so dass das System auf den Markt gebracht werden kann. Durch die Corona-Pandemie haben wir auch noch ein paar neue Ansätze angedacht. Zum Beispiel könnte MeSiB gegebenenfalls in einem Hilfskrankenhaus eingesetzt werden, um dort das Personal zu unterstützen. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass die Zukunft der Medizin nicht in der Digitalisierung liegt. Nur Menschen können Patienten fachgerecht versorgen. Aber der Einsatz von datengestützten Entscheidungsunterstützungen im Sinne der Patientensicherheit kann mehr Effektivität und Effizienz in die Versorgung bringen.


Weitere Informationen:

Webseite des Projekts MeSiB

Ergebnissteckbrief MeSiB

Bekanntmachung Innovationen für die Intensiv- und Palliativpflege